2022
In der Kaiser-Wilhelm-Straße in der Neustadt ist ein ganz besonderes, aber weitgehend unbekanntes Denkmal in Teilen abgebrochen worden. Es handelt sich um einen unterirdischen Leitungsgang aus der Frühzeit der modernen Stadtentwicklung.
Beim Bau der Kaiser-Wilhelm-Straße im Jahre 1892 wurde ein etwa 450 Meter langer, begehbarer unterirdischer Tunnel angelegt, in dem die Ver- und Entsorgungsleitungen und die Anschlüsse der anliegenden Häuser untergebracht wurden. Reparaturen und Ergänzungen an den Leitungen sind damit schnell und einfach möglich, ohne dass in der Straße eine Baugrube angelegt werden muss.
Bei dem Tunnel handelt es sich um einen Versuchsbau, ein Experiment, dass zumindest in Hamburg keine weiteren derartigen Bauten nach sich zog. Obwohl sich die Anlage technisch gut bewährte, blieb der Tunnel in Hamburg aufgrund der hohen Baukosten letztlich ein Einzelstück. Auch wegen der vielen unterirdisch angelegten Sielanlagen, Kanäle und Hochbahnstrecken konnte das Prinzip nicht flächendeckend umgesetzt werden, während es andernorts durchaus aufgegriffen und weiterverfolgt wurde. In Prag und Zürich beispielweise gibt es heute ausgedehnte unterirdische Netze solcher Tunnel, die auch immer noch weiter ausgebaut werden.
Dennoch gehörte der Hamburger Leitungsgang zu den ersten derartigen Bauten auf dem europäischen Festland und heute zu den ältesten erhaltenen Anlagen dieser Art in Europa. Der Tunnel ist etwa 450 Meter lang, etwa 3,00 Meter breit und etwa 1,75 Meter hoch. Er wurde direkt an die Keller der angrenzenden Häuser gebaut, so dass die Hausanschlüsse direkt vom Leitungsgang aus hergestellt werden können. Die Decke besteht aus Stahlträgern, zwischen die gemauerte Gewölbekappen eingebaut wurden. Die Oberseite wurde mit einer Asphaltschicht abgedichtet und mit etwa 25 cm Erdreich überdeckt. Darüber wurde der Gehweg verlegt. Die Leitungen im Tunnel wurden auf Konsolen an den Wänden angeordnet, mit so viel Abstand, dass an den Leitungen gut gearbeitet werden konnte.
Auch wenn der Hamburger Leitungsgang ein Experiment geblieben ist, so ist er doch immerhin fast 130 Jahre in Betrieb gewesen. Seine historische Bedeutung wurde im Juni 2017 mit dem Eintrag in die Denkmalliste gewürdigt. Doch das Alter der Konstruktionen wurde auch zunehmend zu einem Problem: Die Tragfähigkeit genügte nicht mehr den heutigen Anforderungen, durch die Belastungen des Straßenverkehrs entstanden Schäden. So mussten 2017 in Teilen des Tunnels bereits provisorische Abstützungen und Verstärkungen eingebaut werden, um die Standfestigkeit zu sichern. Eine grundlegende Sanierung des Bauwerks wäre schon seit Jahren erforderlich gewesen.
Aus Kostengründen hat sich die Stadt als Eigentümer des Denkmals allerdings gegen die Sanierung und für den Abbruch und die Verfüllung großer Teile des historischen Tunnels mit Flüssigbeton entschieden. Das Denkmalschutzamt hat dem Abriss von etwa 95% der historischen Substanz zugestimmt. Lediglich ein 25 Meter langes Teilstück wurde denkmalgerecht saniert und erhalten. Es wurde vom Hauptteil des Tunnels abgetrennt, gesäubert und von Schadstoffen befreit.
Damit ist ein technisches Denkmal aus der Frühzeit der modernen städtischen Infrastruktur und von weit überregionaler Bedeutung unwiederbringlich verloren gegangen. Die verbleibenden 25 Meter haben eine reine Alibifunktion und können die Technik und die historische Bedeutung des Hamburger Leitungsgangs nicht widergeben. So wurden im August 2021 die Fernwärmeversorgungsleitungen aus dem Leitungsgang entfernt und neben dem Tunnel im Straßenraum neu verlegt. Für die dafür nötige Baustelle ist die Kaiser-Wilhelm-Straße über Monate hinweg halbseitig gesperrt und als Einbahnstraße eingerichtet. Um genau diese Beeinträchtigungen des Straßenverkehrs zu vermeiden, wurde der Leitungsgang vor 130 Jahren gebaut – eine Ironie des Schicksals.
Die Hamburger Denkmallandschaft hat, einmal mehr trotz bestehendem Denkmalschutz, ein weiteres, einzigartiges unterirdisches Kleinod verloren.
Zeitgenössische Darstellung Tunnelquerschnitt: Hamburg und seine Bauten 1914
Fotos: Hamburger Unterwelten e.V., Michael Berndt